Die Familie ist tot!- Es lebe die Familie
Mittwoch, 20. Oktober 2010
Begegnung der anderen Art
Alles endete dann Sonntag, genau drei Wochen vor dem errechneten Geburtstermin und viele Klinikbesuche später mit dem Satz: „Können sie es noch bis morgen aushalten?“ Ich fragte nur ungläubig: „Was?“ und dachte ich hätte mich verhört. Ich hatte den Geburtsvorbereitungskurs doch nur zweimal besucht und keine Ahnung von Geburt. Außerdem hatte ich schreckliche Angst vor dem Priming und tagelangen Wehen. Es wurde mir vorausgesagt, dass es bei mir wohl sehr lange dauern würde, da der Muttermund noch völlig geschlossen war. Außerdem war es unklar ob das Kind durch den Geburtskanal passen würde. Der Arzt sagte dann zu meiner Erleichterung: „Ja, für morgen ist schon einen Kaiserschnitt geplant wenn sie wollen, können sie danach gleich drankommen, denn unter den gegeben Umständen wäre das wohl die beste Lösung. Können Sie noch bis morgen warten?“ Und ob, am liebsten wäre ich dem Arzt um den Hals gefallen. Denn nun sollten alle meine Leiden von einem Tag auf den anderen beendet werden.
Noch am selben Abend wurde ich in der Klinik einquartiert. Ich war zunächst allein auf dem Zimmer und konnte kaum den morgigen Tag erwarten. Ich war schon voller Neugier und Vorfreude. Vor dem Eingriff selbst hatte ich keine Angst, denn ich war ja schon zweimal operiert worden. Meine einzige Sorge war, ob Andi auch dabei sein durfte, denn dies war in diesem Krankenhaus wohl nicht die Regel. Andi musste allen versprechen nicht umzufallen und wenn doch, dann dem Krankenhaus deswegen keinen Ärger zu machen.
Am folgenden Tag, dem Montag, ging dann alles ziemlich schnell. Andi und meine Mutter kamen morgens ganz früh. Ich hatte nach einer Dosis Faustan gut geschlafen und wir waren auf dem Weg in den Operationssaal. Da kam es dann zur bereits erwähnten Namensgebung unseres Sprösslings. Als wir angekommen waren bekam ich ein OP- Nachthemd, äußerst schicke Thrombosestrümpfe und eine Mütze an. Ich muss wohl ziemlich dämlich ausgesehen haben, aber das ist einem in so einem Moment völlig egal.
Dann stellte sich der operierende Professor vor und fragte meine Mutter gleich aus wo sie denn entbunden hatte. Meine Mutter antwortete, dass sie genau vor fünfundzwanzig Jahren mich auch hier mit einem Kaiserschnitt zur Welt gebracht hatte. Später stellte sich dann heraus, dass derselbe Professor meine Mutter damals entbunden hatte. Damit war also eine neue Familientradition entstanden. Ich hoffe ich bekomme noch eine Tochter und der Professor bleibt Dank der Heraufsetzung des Rentenalters noch lange im Dienst, um diese Tradition fortzuführen. Der Professor findet dies auch alles kurios, denn bei einer der folgenden Visiten muss er vor allen Anwesenden noch einmal diese Anekdote erzählen.
Ich wurde dann in den Nachbarraum geschoben und die Spinalanästhesie wurde gelegt. Ich wurde gefragt wann ich den kein Gefühl mehr im Unterleib hätte und nach einiger Zeit und einige Atmungsschwierigkeiten später, durfte dann auch mein Andi endlich in den Operationssaal. Da dies wie bereits erwähnt in dieser Klinik unüblich war, musste Andi, um glaubhaft zu machen, dass ihm die Operation nichts ausmacht, dem Anästhesieassistent ausführlich erzählen wie man auf einem Bauernhof Schafe und Schweine schlachtet. Dieser meinte nach kurzer Zeit, Andi solle aufhören, sonst würde ihm noch schlecht werden.
Als Andi sich dann am Kopfende hingesetzt hatte ging es los. Er lugte über das grüne OP-Tuch (was normalerweise nicht zu empfehlen ist) und ich hatte das Gefühl es waren nur zwei Sekunden vergangen und ich hörte die ersten Schreie meines Sohnes Sascha. Mein Mann und ich sahen uns in die Augen. Uns schossen die Tränen der Rührung in die Augen und ich freute mich, mein Baby nun das erste Mal zu sehen. Doch was war das. Es wurde nur kurz gerufen: „Hier ist ihr Baby.“ Mein Sohn wurde kurz über das Tuch gehalten. Ich sah ein rosiges, schreiendes Etwas. Dann sah ich halb im Drogennebel wie eine Schwester etwas in ein Handtuch gewickelt wegtrug und dann war auch noch Andi weg. Halt. So hatte ich mir das nicht vorgestellt. Wo war mein Kind, ich wollte es sehen. Sofort! Wo zum Teufel war mein Mann und auch meine Mutter war nirgends zu sehen, und was sollen eigentlich all diese fremden Menschen um mich herum. Ich will sofort nach Hause.
Als ich mich wieder etwas gesammelt hatte, verlangte ich nach meinem Mann, der mir half auch noch das Zunähen zu überstehen. Danach wollte ich einfach nur noch schlafen. Was ich dann auch fast den ganzen Tag tat. Meinen Sohn bekam ich nur als Polaroid zu sehen. Er war an lauter Geräte angeschlossen und schlief. Besser als gar nichts dachte ich mir. Aber das war mir nach all den Drogen auch schon völlig egal. Irgendwann gegen Abend wurde der Drang Baby Sascha zu sehen, dann doch sehr stark. Ich erfuhr, dass er auf der Neonatologie zur Beobachtung lag. Wie zum Teufel sollte ich dort hinkommen. Schließlich hatte ich gerade eine OP überstanden und ein Loch im Bauch. Mit viel Anstrengung gelang es mir mich trotzdem in einen Rollstuhl zu setzen. Was in Anbetracht der Tatsache, dass meine Beine aus Butter waren, sehr schwer fiel. Ich wurde also in das Zimmer geschoben. Feuchtwarme Luft schlug mir entgegen. Mir wurde schlagartig übel, aber es gelang mir noch einen kurzen Blick auf meinen Sohn zu erhaschen. Er lag in einem Wärmebettchen, nur mit einer kleinen Windel bekleidet. Der kleine nackte Oberkörper war an Geräte, die seinen Puls und seine Atmung überwachten angeschlossen. Mehr konnte ich nicht sehen. Dann drehte sich alles und ich wurde mit meinem Rollstuhl in mein Zimmer gebracht.

…Erst zwei Tage, einige Versuche Sascha zu sehen und eine Zimmerverlegung später am Mittwoch habe ich Zeit meinen Sohn länger zu betrachten. Nachdem die Schwester das Zimmer verlassen hat, bin ich mit ihm fast allein. Bis auf die restliche Zimmerbesatzung natürlich. Sascha ist fünfzig Zentimeter lang und Dreitausendfünfzig Gramm schwer, wie ich auf seinem Schild am Bettchen lesen kann. Er ist nun schön gewaschen, hat einen winzigen Strampler an und rührt sich nicht. Er hat weine winzige Stupsnase, weinige dunkelblonde Härchen sind auf seinem Kopf zu sehen. Die Haut ist glatt und sieht weich aus. Die Schwester hat ihn gleich früh am Morgen in einem Glasbettchen neben mein Bett geschoben. Die Müdigkeit ist sofort verflogen. Ich bin aufgeregt und neugierig. Schließlich ist dies meine erste richtige Begegnung mit meinem Baby. Ich versuche an das Bettchen zu kommen, um ihn herauszunehmen, oder wenigstens zu berühren. Das steht mir ja nun endlich auch zu. Aber diese Schwester muss wohl eine sadistische Ader haben. Denn sie hat das Bett viel zu weit von mir entfernt aufgestellt und ich kann mich immer noch kaum bewegen. Der Bauchschnitt tut mäßig weh und die Beine sind immer noch irgendwie taub - Ist das eigentlich normal? Ich beginne mich zu fragen ob es hier versteckte Kameras gibt, und die Schwestern in ihrem Zimmer sich jetzt auch noch über mich kaputt lachen, wie versuche irgendwie nach meinem Kind zu angeln. Nach etwa einer halben Stunde gebe ich entnervt auf. Doch dann passiert es. Der Kleine übergibt sich im Schlaf, fängt an zu husten und hört gar nicht mehr auf. Oh Gott! Was soll ich jetzt machen. Eine Sekunde lang versuche ich aus dem Bett zu springen. Bis mich ein stechender Schmerz an den Schnitt erinnert. Ich kann ihn nicht hochnehmen, meine Bettnachbarin ist nicht da, nicht einmal die sadistische Schwester ist zu sehen. Da fiel es mir ein den Knopf zu drücken und eine Minute später steht eine Schwester im Zimmer. Endlich gibt sie mir Sascha in den Arm. Für einen Augenblick bin ich überwältigt und glücklich. Doch was nun. Er ist ja so winzig. Ich traue mich kaum mich zu bewegen. Ich könnte ja etwas kaputt machen, vielleicht einen Arm abbrechen oder so. Also liege ich ganz still da und beobachte das mir fremde Wesen als wäre es von einem anderen Stern. Obwohl er nichts anderes tut als schlafen, kann ich die Augen kaum von ihm lassen.

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Letzte Aktualisierung: 2010.12.20, 08:58
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